Dienstag, 13. Juni 2023

Texte und andere schöne (Dinge)

 





Stell dir vor, wir sitzen uns gegenüber am Tisch. Nur du und ich, die Welt herum braucht nicht zu existieren, nur wir, wie wir uns gegenseitig anschauen. Ich könnte mich in deinen Details verlieren, stattdessen lenke ich meine Sicht auf die Tischplatte.
Der Tisch ist mal aus Glas, mit einer unebenen Oberfläche, die sich unter meinen Fingerkuppen wie eine fremdartige Welt anfühlt, dann besteht er aus Plastik, mit einer dieser rot, weiß karierten Vinyl Tischdecken, die sich leicht ölig anfühlt. Für einen Augenblick spüre ich die Sonne im Gesicht, wie sie nur im Urlaub scheint.
Ich schaue dich an, greife in meine Brust und nehme das heraus, was darin schlägt. Behutsam lege ich mein Herz auf das dunkel lasierte Holz vor dir

So nicht.


Im Auto sprach ich von Leidenschaft.
Ich sitze am Steuer, auf die Straße vor mir konzentriert, erzähle ich, wie wichtig Leidenschaft für mich ist. Ich fühle mich sicher. Das gute Gefühl der letzten Tage hallt noch in mir nach, Endorphine, die noch nicht zurück in ihre Synapsen gefunden haben und den intrazellulären Raum unsicher machen. Doch über allem fühle ich mich sicher.

Auch so nicht.


Eines Morgens wachte ich auf und war gestorben. Einfach so. Über den Tag hinweg brachte ich mich auf unzählige weitere Arten um. Unter anderem mein Taschenmesser, ein Pinsel, der Rhein und eine viel befahrene Straße. Ein ganz normaler Tag in einem Zeitraum, der von Dunkelheit gefüllt ist.
Ich lache in solchen Episoden, rede mit Menschen und unternehme sogar etwas mit ihnen. Doch wird diese Zeit immer von einer verzerrten Wahrnehmung dominiert. Oder eher von einem Mangel an Wahrnehmung, denn oftmals verliere ich mich in den Details, in der Verzweiflung und Ausweglosigkeit und sehe nicht alles Andere drum herum.
Manchmal laufe ich einfach weg, wenn ich eigentlich bleiben sollte.


Der Tisch ist eine rote Tür. Ich öffne sie und schaue auf mich hinab, wie ich auf mich hinauf schaue.


Ich stehe bei Minustemperaturen auf einem Berg und fotografiere den Himmel. Ich sitze im Auto und fahre quer durch Deutschland, um ein Gedicht vorzutragen. Ich stehe um drei Uhr nachts vor einer Leinwand und male ein Selbstportrait. Ich sitze im Keller und poliere Bremshebel für mein Fahrrad. Ich stehe am 3D-Drucker und verbrenne mir die Finger an der 200°C heißen Düse.

Ich lebe, und so zeige ich es. Ich liebe, und doch.


Stell dir vor, wir sitzen uns gegenüber am Tisch und reden.


Mit dir kann ich lachen
Völlig ungezwungen und frei
Sein
Mit dir fühle ich
Und obendrauf fühle ich mich
Gut
Mit dir ist die Welt
Auch voller Farbe
Aber keine, die fremd wirkt
Angenehm und vertraut
So wie du

Dienstag, 17. Januar 2023

Geschichten

 


 3 Wünsche

Der Mann steht neben seinem Einkaufswagen inmitten der Kreuzung. Keiner scheint ihn zu beachten, in seiner Jacke, die irgendwann mal hellblau gewesen, jetzt grau und dreckig ist, und nass. Er schaut dem Regen entgegen und lacht, scheint genauso wenig jemanden zu beachten.
Die vorbeifahrende Bahn verdeckt ihn kurz und dann ist er verschwunden.
„Der Mann in schwarz“, sagt mein Gehirn. „Eher der Mann in hellblauem grau“, denke ich mir und lache. Und doch bleibt ein Gedanke im Hinterkopf. Ein Pakt. Um Mitternacht einen Hühnerknochen auf der Kreuzung vergraben und schon erscheint er, erfüllt dir jeden deiner Wünsche.
„Was ist eine Seele schon wert?“, denke ich und lache erneut, aber nicht mehr so wie vorhin.

Auf dem Rückweg sitze ich in der Straßenbahn, fahre an der Kruzung vorbei und sehe ihn dort stehen, hellblau und dreckig und nass. Er sieht mich auch. Er sieht mich, schaut mich fragend an, als wolle er sagen: „Was ist dein Wunsch?“

„Ich will, dass es aufhört. Einfach nur Ruhe. Einfach normal...“

Er lacht laut auf. Selbst durch die Scheibe und den Lärm der Straßenbahn kann ich ihn hören. Er legt den Kopf in den Nacken und lacht hysterisch in den Himmel.

Da sich nichts ändert, frage ich mich später ob ich mir alles eingebildet habe oder sich Seelenlosigkeit einfach so anfühlt, wie ich mich fühle.


Gorillagehege

Als ich um die Ecke komme, muss ich kurz stehen bleiben und die ganze Szene in mich aufnehmen.

Sie steht vor dem Gorillagehege und macht Fotos. Es erstaunt mich, wie sie ihren Platz in der Welt behauptet, anmutig dasteht und der Luft um sich herum den Raum nimmt. Die Freude, an dem was sie macht, scheint auch auf mich überzuspringen. Fotografieren. Ich hebe die Kamera an - sehe durch den Sucher wie das Licht um sie herum gelenkt wird, all die Farben, die sich ihrer Anziehungskraft nicht widersetzen können und ins rötliche Spektrum rutschen - und lasse sie gleich darauf wieder sinken, eine leise Stimme im Hinterkopf, die mir sagt: „Sie mag es nicht, wenn man sie fotografiert.“
Also stelle ich mich neben sie und versuche meine Aufmerksamkeit auf die Tiere zu lenken.

Die Gorillas scheinen genauso ungern fotografiert zu werden, denn alle sechs drehen mir den Rücken zu.

Ich spüre, wie sie sich entfernt, höre ihre Schritte hinter mir, fühle, wie es mich regelrecht nach hinten, zu ihr hin, zieht. Dennoch versuche ich mich weiterhin auf die Gorillas zu konzentrieren. Kein einziges Foto will gelingen.

Als zwei Kinder vor mich her rennen und eines fast in mich hinein läuft sehe ich doch endlich weg und schaue zu ihr hinüber. Sie deutet mir an mich neben sie auf die Parkbank zu setzen.

Ich vermisse sie, obwohl sie neben mir sitzt. Ich fange ein dummes Gespräch an, irgendwas belangloses, an das ich mich sowieso nie wieder erinnern werde, nur um die Stille zu durchbrechen.

37 Regeln stehen mittlerweile zwischen uns. Unzählige Barrieren. Gewaltige Klüfte.

Also sage ich ihr, dass das Zwergpflusspferd sich aus seinem Häusschen herausgewagt hat und sie es fotografieren sollte, bevor wir weiter gehen. Schicke sie weg. Und hasse alles.

Erst jetzt bemerke ich den Lärm der auf mich hineinprasselt, so wie die Luft, die in das Vakuum hineingesogen wird, das sie im Raum hinterlassen hat. Tausende Gedanken erfüllen meinen Kopf und ich ertrinke darin. „Entropie“, sagt jemand lachend.

Als eine andere Freundin zu mir herüber kommt, springe ich breit grinsend von der Bank auf.


Sisyphos

Diese Geschichten sind mein Fels. Zyklus um Zyklus schreibe ich neue auf und bringe die Welt, wie ich sie erlebt habe, auf papier. Einzigartig und doch immer wieder gleich.

Meine Bestrafung liegt nicht darin, den Fels zu schieben. Strafe ist die Gewissheit, dass man immer wieder abstürzen und von neuem anfangen muss. Hoffnung, dass sich etwas ändert und die Angst davor, dass doch alles gleich bleibt.

Irgendwann brennt die Erde wieder. Willkommen in der Unterwelt.

Wie erklärt man jemandem, dass man Angst hat, nachts aus dem Fenster zu schauen, weil man weiß, das irgendwas aus der Dunkelheit zurückstarren wird? Wie beschreibt man das Gefühl, wenn man sich an ein Paar blauer Augen zurückerinnert? Wie schildert man jemandem, dass man plötzlich die Welt ganz anders sieht und nichts mehr Sinn macht?

Rauf und runter, immer wieder und wieder. Ein höllischer Takt, der nicht endlos sondern zeitlos scheint. Meine Geschichten sind die Melodie darin. Sie erfüllen das ganze mit Motiven und Farben und Erträglichkeit.

Ein Lied, das sich wie ein Faden durch mein Schicksal bewegt.


Ich

Oft frage ich mich, wie viel von dem Geschriebenen eigentlich echt ist und wie viel letztlich fiktiv. Dabei meine ich nicht einmal die Tatsache, dass sich Erinnerungen im Kopf ständig verändern. Vielmehr ist es die Wahrnehmung, die sich in so manchen Situationen verzerrt und somit auch die Erinnerung daran, also an die jeweilige Situation, verfälscht.
Nichtsdestotrotz bemerke ich oft, wie ein regelrechter Drang entsteht, diese Erinnerungen, oder besser noch, diese Geschichten niederzuschreiben. Einen Kerngedanken aufnehmen und ihn in eine Erzählung packen. Dabei spielt es keine Rolle, was real und was fiktiv ist. Eine Verschmelzung von beidem. Eine Geschichte.

Lovers find secret places
inside this violent world
where they make transactions
with beauty.
- Rumi

Montag, 11. Oktober 2021

Anleitung für einen Zaubertrick

 


Ein Zaubertrick erfolgt in drei einfachen Schritten. Zuerst die Einleitung, die den Zuschauer einfangen und an die Handlung heranführen soll. Anschließend eine einfallsreiche Ablenkung. Zum Schluss eine grandiose Enthüllung.

Ein guter Zaubertrick beinhaltet dabei noch drei essenzielle Dinge:

Ein durchdachtes Konzept. Der Magier ist nicht nur ein Schauspieler auf der Bühne. Vielmehr ist er Geschichtenerzähler. Er muss wissen, wie er seine Aufführung aufbaut, wo seine Schwächen liegen, und immer ein Ass im Ärmel haben, sollten die Sachen mal nicht so laufen, wie erwartet.

Eine Zauberformel. Diese kann willkürlich gewählt werden. Sehr beliebt sind dabei Klassiker wie Abrakadabra und Hokus Pokus, wenn man aus meiner Ecke der Welt kommt auch exotischeres wie Qiribu Qiriba[1].

Die Irreführung. Darauf läuft jeder Trick letztendlich hinaus. Zweck der Irreführung ist es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers abzulenken, so dass man den Trick vor ihren Augen ausführen kann, ohne dass sie irgendetwas bemerken. Gute Magier können mit offenen Karten spielen und nur im entscheidenden Moment ihr Handeln verbergen. Andere schwören auf Pyrotechnik oder fuchteln wie wild mit den Armen in der Luft herum, um zu täuschen. Richtig waghalsige Magier benutzen Sprache. Sie stellen Fragen, um zu verwirren. Zum Beispiel: Was haben der Rhein, ein Joghurtbecher und der Kommunismus gemeinsam?

 

 

Meinen ersten Zaubertrick lernte ich von meinem Vater. Er nahm ein Streichholz, zündete es an und ließ es mich erst auspusten, nachdem gut die Hälfte abgebrannt und der nun schwarz gefärbte Kopf sich langsam zur Seite bog, sodass er einem alten, gekrümmten Mann glich. Er streckte mir das Streichholz entgegen, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand, während er seine rechte darunter hielt, und forderte mich auf, meine Hand über dem Streichholz kreisen zu lassen und die Zauberformel zu sprechen. Qiribu Qiriba. Der Kopf des Streichholzes sprang einfach ab und fiel zu Boden.

Dies wiederholte er ein paar Mal, bis er mir schließlich zeigte, dass er lediglich mit seinem rechten Daumennagel gegen die untere Kante des Holzes schnippte, um die Spitze abzubrechen.

Der Zauber war verflogen.

 

Ein guter Magier verrät niemals seine Tricks. Auch wenn es letztlich nur dazu dient, dem Zuschauer die Illusion von wahrer Magie nicht zu nehmen.

 

Wahre Magie zu finden ist nicht schwierig. Erst recht nicht, wenn man von einem Volk abstammt, das an Verwünschungen und Hexereien glaubt. Ein Kind, was sich nicht beruhigt, ist vom bösen Blick getroffen. Ein Durchzug kann einen ins Grab bringen. Verstaucht man sich die Hand, muss man ein Ei darauf zerbrechen, damit sie wieder heilt. Und psychologische Probleme sind schlichtweg schwarze Magie, die von einem Geistlichen ausgetrieben werden muss.

 

 

Magie steckte auf der langen Busfahrt in kleinen Büchern mit einfarbigen Umschlägen, auf denen jeweils ein Titel und eine Tuschezeichnung gedruckt waren. Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und Ali Baba und die 40 Räuber begleiteten mich drei Tage lang. Im Inneren dutzende Bilder, die ich mir bis ins kleinste Detail einprägte, während wir unsere Heimat verließen und aus dem Süden Jugoslawiens heraus das gesamte Land umfahren mussten, um keine Festnahme zu riskieren.

 

Das Asylantenheim war einst eine alte Arbeiterbracke, die zur nahegelegenen Ölraffinerie gehörte. Wir bekamen ein Zimmer, meine Eltern, meine ältere Schwester und ich. Und einen Fernseher hatten wir. Einer dieser alten Röhrenfernseher, dessen gläserne Bildfläche auf wundersame Weise knisterte, wenn man mit der Hand darüber fuhr. Aus ihm lernten wir Kinder die Rezepturen für Zaubertränke und die Bedeutung von Abenteuer. All die Geschichten spielten wir im angrenzenden kleinen Waldstück nach, fernab der restlichen Stadt.

 

Später wurden wir in die Stadt geholt. Lebten nun in einem Einfamilienhaus; mit sechs weiteren Familien. Für mich war es wunderbar, hatte ich so viele Freunde dort.

Eines Tages, beim Spielen vor dem Haus, rief uns ein Nachbar hinüber, lud uns zu sich ein. Er war ein großgewachsener Mann mittleren Alters. Seine Wohnung war im Dachgeschoss im 3. oder 4. Stockwerk. Er machte uns frische Waffeln, legte noch eingemachte Kirschen drauf.

 

Neue Welten eröffneten sich mir aus einer kleinen Kiste, die bunte Pixel über einen Bildschirm jagte. Viel erstaunlichere Welten entdeckte ich in Büchern, nachdem mir mein Klassenlehrer in der Grundschule die Schulbibliothek zeigte, die zu meinem Lieblingsort wurde.

In der Schule lernte ich aber auch, wie facettenreich die reale Welt ist und wie unterschiedlich das Leben meiner Klassenkameraden gegenüber meinem eigenen sein kann.

 

 

Ein Magier sollte seine Geschichten gut wählen. Er sollte sich nicht zu sehr an Details festhalten und niemals zu viel erzählen. Ein kleiner Bruch im Narrativ kann immer dazu genutzt werden Spannung zu erzeugen und den Zuschauer im Bann zu halten.

 

 

Es sind diese einfachen Worte. Ich liebe dich. Eine Zauberformel für sich. Doch diese Liebe hatte keine Aussicht. Wir waren nicht zu jung, auch schien der Zeitpunkt nicht falsch. Nichts so Einfaches.

Wir können nicht zusammen sein. Ich könnte dich nie meinem Vater vorstellen.

 

Woher kommen Sie?, fragte mich ein Professor in einer mündlichen Prüfung. Meine Antwort, über den Ort, an dem ich aufgewachsen war, schien ihn nicht zu befriedigen, denn er hakte nach: ursprünglich?

Nach zwei Fragen ließ er mich durchfallen, mit der Begründung, ich hätte den Stoff wohl nicht verstanden.

 

Es hört auf, Magie zu sein, wenn man den Satz Ich bin die Deutsche hier, ich muss es doch besser wissen, als du zu hören bekommt, obwohl man in dem gleichen Land aufgewachsen ist, die gleichen Schulen besucht hat.

 

 

Plötzlich merkt man, dass man eben nicht von Magie spricht, sondern etwas ganz anderem. Freude vielleicht oder gar Liebe. Etwas, dass wir alle in diesem Land gemeinsam haben, egal wie wir heißen oder welche Farbe unsere Haare und unsere Haut haben. Egal wo wir herkommen. Menschlichkeit und Glück. Und ein jeder tut so, als können wir es ihm streitig machen. Als wäre nicht genug davon da. Kein Geld für Waffeleisen und kein Platz für Anderes.

 

 

Als ich vier Jahre und vier Monate alt war, nahm mich mein Vater mit zum Einkaufen. Der Supermarkt erschien mir riesig. Voller Waren, die ich in der alten Heimat niemals gesehen hatte. In der Kühlabteilung entdeckte ich einen Joghurtbecher. Mein Vater gab ihn mir in die Hand und ich lief damit voller Stolz bis zur Kasse.

Die Kassiererin lächelte mich an und sprach etwas in einer fremden Sprache zu mir. Ich versteckte mich hinter den Beinen meines Vaters. Beim Weitergehen winkte ich ihr dann doch noch zu.

Den ganzen Weg nach Hause trug ich diesen Joghurtbecher vor mir, der mir wie ein Schatz vorkam.

Nachdem wir angekommen waren, setzte ich mich gleich auf eine der Kojen in unserer Kajüte – die erste Unterbringung für Flüchtlinge war damals ein Boot auf dem Rhein – und gleich darauf schien meine kleine Welt unterzugehen. Wir besaßen kein Besteck.

Da öffnete mein Vater den Becher und faltete mir aus dem Deckel einen Löffel.

 

Die Antwort: Meine erste Erinnerung und mein erster Tag in diesem Land. Ein Land, das von Anfang an Heimat war, auch wenn ich es erst später erkennen sollte. Ein Land, das voller Magie steckt – und Allem, wofür dieses Wort noch steht – wenn man nur mit dem richtigen Blick darauf schaut.



[1] Gesprochen: „Tschiribu Tschiriba“

Donnerstag, 10. Juni 2021

post scriptum



 

Im Traum laufen wir gemeinsam durch Bonn. Es ist Abend und du strahlst mich unbeschwert an, stehst im Kontrast zu all den dunklen, alten Gebäuden hinter dir.

Am ersten Fußgängerüberweg läufst du einfach über die Straße. Ich halte, weil die Ampel auf Rot steht. Als ich endlich die Straße überquere stehst du da mit einer anderen Frau und hältst ihr Kind, einen Jungen, im Arm. Ein deutsches Kind mit deutschem Namen. Das muss mir wichtig gewesen sein, im Traum.

Dies wiederholt sich ein zweites Mal, rote Ampel für mich, keine Frau für dich, nur Kind, nur Junge.

An der dritten Ampel bleibst du nach dem Überqueren stehen, drehst dich zu mir um. Du winkst, rufst: „Nun komm schon!“

Doch ich kann nicht, weder zu dir kommen noch dir entgegenrufen, dass meine Ampel rot ist. Menschen umströmen mich aus allen Seiten. Keine Masken, kein Abstand. Keine Pandemie. Nur ich in einer Flut von Körpern. Ich bewege mich nicht, du bist schon wieder weg.

In einem Opernhaus finde ich dich wieder. Jugendstil, rote Wände mit dunklen floralen Mustern darauf. Goldlackierte, hölzerne Möbel. Du stehst da mit einem weiteren Säugling auf dem Arm. Diesmal ein Mädchen. Und während ich mich noch darüber wundere, warum der in feiner Kursivschrift auf deinem Hemd aufgestickte Name auf einem „e“ endet und keine zwei Pünktchen – du würdest mir sicherlich sagen, dass sie Trema genannt werden – aufweist, drückst du mir die kleine mit einem „hier!“ vorsichtig in die Arme.

Sie weint sogleich los.

Mit der plötzlichen Erkenntnis, dass mich das Weinen wecken wird, halte ich mich so lange am Traum fest, um sie dir sorgsam zurückzugeben und steige danach in die Realität hinauf, während ich noch ein letztes Mal sehe, wie du sie langsam wiegst.

Ohne Namen.

 

 

Einen Monat später ist dieser Text kein Bisschen weiter gekommen, als zu diesem Traum. Und auch der Traum wirkt verblasst und unwichtig. Ohne Gewicht. Substanzlos. Irrelevant.

Letztlich hielt ich mich doch auch wieder nur an ein Was-wäre-wenn, an ein Potential.

 

Ich wollte den Text mit folgenden Zeilen beenden:

P.S. Ich wünschte, ich hätte über etwas anderes schreiben können. Über Abenteuer, Freude. Über uns.

 

Die Sache ist, dass ich kein Was-wäre-wenn fühle, sondern nur die Realität. Und darin hallen die Worte „ich möchte kein…“ wider.

 

 

Ich möchte keine Zeit mehr hier rein investieren.

 

 

,schrieb ich am Flughafen Palma.

Und obwohl ich von dir lernte, wie und warum man Texte bearbeitet, lasse ich diese Zeilen roh. Momentaufnahme.

 

Wie geht es dir? – So wie dem Meer. Ich schwelle an und schwinde wieder, gezogen von diesem Mond, der auch an meinem Herzen zu zerren scheint. Ich komme und gehe in Wellen, nur das Rauschen des Windes im Ohr. Ich bin das Meer. Treibe auf meiner eigenen stillen Oberfläche umher. Schaue durch mein glasklares Wasser und sehe doch nichts in meinen endlos dunklen Tiefen, die mich erschaudern lassen. Thalassophobie, sagt eine Stimme.

 

9 von 10 Menschen wissen sofort Bescheid, wenn ich ihnen von meiner bipolaren Störung erzähle. Gefühlt jedenfalls. Wissen sofort, wie ich mich verhalten werde, wie meine Tiefen aussehen und, noch viel wichtiger, die Höhen. Kanye West bekomme ich dann zu hören oder manchmal auch Charlie Sheen. Nie hat jemand Carrie Fisher erwähnt, ganz zu schweigen von Hemingway. Kein Lord Byron oder Robert Louis Stevenson. Nein, Schlagzeilen sind halt attraktiver und Hiphop.

9 von 10 Menschen wissen dann bescheid, dass meine Manie eigentlich nur mein männliches Ego ist, das endlich zum Vorschein kommt. Erahnen sofort, dass meine Distanziertheit, meine Abwesenheit nur ein Ruf nach Aufmerksamkeit ist. Sind sich sicher, dass ich nur selbstverliebt, nur narzisstisch bin.

9 von 10 Menschen verstehen nicht, warum ich in 30 Meter Höhe an einem Geländer lehne und mit mir kämpfen muss, um nicht zu springen. Verstehen nicht, warum ich immer wieder in Situationen komme, in denen ich mich fragen muss, warum ich bestimmte Sachen gesagt oder getan habe. Wissen nicht wie es ist aufzuwachen und keine Kontrolle mehr über sein Handeln zu haben, mit geschlossenen Augen über die Autobahn zu fahren, Menschen sinnlos anzupöbeln, sich die Hände blutig zu schlagen, nur weil einem danach ist. Können es nicht nachvollziehen, wie es ist festzustecken, nicht mehr voran zu kommen, grundlos weinend zusammenzubrechen, nichts zu fühlen. So wenig zu fühlen, dass man sich mit spitzen Gegenständen in die Fingerkuppen sticht. Um zu fühlen.

9 von 10 Menschen raten mir einfach jemanden zu vögeln. Sport machen. Rausgehen. Yoga. Einfach aufhören traurig zu sein.

So liege ich am Strand und bin depressiv. Fahre über 30 km mit dem Rad und bin müde und obendrauf mental am Boden. Oder manisch und nichts von dem da oben tut in der Manie gut, so viel weiß einer von 10 Menschen.

Und die anderen 9 sind am Ende einfach weg.

 

 

Ich wollte dich sehen. Dich sehen. Kennenlernen, was ich nicht kenne – nein – wen ich nicht kenne. Das war mein Wunsch. Erleben. Leben.

Wortspiele liegen dir mehr. So wie das schreiben. Und doch konnte ich endlich jemandem glauben, dass auch ich schreiben kann, dass das, was ich hier fabriziere auch gut ist. Ich konnte es, weil ich dich sah, deine Leidenschaft, das Herzblut, das du in jeden Text zu stecken schienst und all die Zeit und Arbeit. Leidenschaft.

Das faszinierte mich. Zog mich an. Erweckte Sehnsucht nach Kennenlernen. Erkennen. Sehen.

 

War ich doch dankbar, dass plötzlich alles Wirken, alle Werke eine weitere Bedeutung bekamen. Kunst war nicht mehr nur Selbstdarstellung, und auch nicht mehr nur die Erfüllung einer Daseinsberechtigung. Kunst war plötzlich auch für dich. Ein Rotkehlchen. Dutzende Blumen. Briefe. All das wurde noch einmal mehr. Dank dir.

 

Selbst ich.

 

 

Es ist ein unbeschreibliches Gefühl in so vielen Aspekten gespalten zu sein. Es ist nicht schlecht. Keineswegs. Es ist vielmehr ungewöhnlich.

Ein Buch. Irgendwas im Sinne von: „Hey, ich hab gerade das erste Kapitel von dem Buch gelesen, dass deinen Namen trägt, richtig gut, falls es nicht von dir sein sollte, kann ich es dir nur empfehlen.“

 

Missverstanden werden ist auch etwas Schönes. Zeigt einem die eigene Menschlichkeit und die des Gegenübers. Missverstanden habe ich mich oft gefühlt. Und menschlich. Und schön.

 

Eines ist mir aber kürzlich klar geworden; so sehr ich mich nach einem (wieder)sehen gesehnt habe, würde ich heute keinen Umweg dafür machen.

 

 

 

P.S.

Das ist alles, was ich habe. Alles was noch Daseinsberechtigung sucht. Kunst war gut mit dir, und schön. Für mich war es nie das, was du darin gesehen hast, aber eine schlaue Person sagte mir mal, dass eben auch der Betrachter der Kunst eine eigene Bedeutung geben kann, die nicht vorgesehen war. Ein wundervoller Gedanke.