Im Traum laufen wir gemeinsam durch Bonn. Es ist Abend
und du strahlst mich unbeschwert an, stehst im Kontrast zu all den dunklen, alten
Gebäuden hinter dir.
Am ersten Fußgängerüberweg läufst du einfach über die
Straße. Ich halte, weil die Ampel auf Rot steht. Als ich endlich die Straße
überquere stehst du da mit einer anderen Frau und hältst ihr Kind, einen
Jungen, im Arm. Ein deutsches Kind mit deutschem Namen. Das muss mir wichtig
gewesen sein, im Traum.
Dies wiederholt sich ein zweites Mal, rote Ampel für
mich, keine Frau für dich, nur Kind, nur Junge.
An der dritten Ampel bleibst du nach dem Überqueren
stehen, drehst dich zu mir um. Du winkst, rufst: „Nun komm schon!“
Doch ich kann nicht, weder zu dir kommen noch dir
entgegenrufen, dass meine Ampel rot ist. Menschen umströmen mich aus allen
Seiten. Keine Masken, kein Abstand. Keine Pandemie. Nur ich in einer Flut von
Körpern. Ich bewege mich nicht, du bist schon wieder weg.
In einem Opernhaus finde ich dich wieder. Jugendstil,
rote Wände mit dunklen floralen Mustern darauf. Goldlackierte, hölzerne Möbel.
Du stehst da mit einem weiteren Säugling auf dem Arm. Diesmal ein Mädchen. Und
während ich mich noch darüber wundere, warum der in feiner Kursivschrift auf
deinem Hemd aufgestickte Name auf einem „e“ endet und keine zwei Pünktchen – du
würdest mir sicherlich sagen, dass sie Trema genannt werden – aufweist, drückst
du mir die kleine mit einem „hier!“ vorsichtig in die Arme.
Sie weint sogleich los.
Mit der plötzlichen Erkenntnis, dass mich das Weinen
wecken wird, halte ich mich so lange am Traum fest, um sie dir sorgsam
zurückzugeben und steige danach in die Realität hinauf, während ich noch ein
letztes Mal sehe, wie du sie langsam wiegst.
Ohne Namen.
Einen Monat später ist dieser Text kein Bisschen
weiter gekommen, als zu diesem Traum. Und auch der Traum wirkt verblasst und
unwichtig. Ohne Gewicht. Substanzlos. Irrelevant.
Letztlich hielt ich mich doch auch wieder nur an ein
Was-wäre-wenn, an ein Potential.
Ich wollte den Text mit folgenden Zeilen beenden:
P.S. Ich wünschte, ich hätte über etwas anderes
schreiben können. Über Abenteuer, Freude. Über uns.
Die Sache ist, dass ich kein Was-wäre-wenn fühle,
sondern nur die Realität. Und darin hallen die Worte „ich möchte kein…“ wider.
Ich möchte keine Zeit mehr hier rein investieren.
,schrieb ich am Flughafen Palma.
Und obwohl ich von dir lernte, wie und warum man Texte
bearbeitet, lasse ich diese Zeilen roh. Momentaufnahme.
Wie geht es dir? – So wie dem Meer. Ich schwelle
an und schwinde wieder, gezogen von diesem Mond, der auch an meinem Herzen zu
zerren scheint. Ich komme und gehe in Wellen, nur das Rauschen des Windes im
Ohr. Ich bin das Meer. Treibe auf meiner eigenen stillen Oberfläche umher.
Schaue durch mein glasklares Wasser und sehe doch nichts in meinen endlos
dunklen Tiefen, die mich erschaudern lassen. Thalassophobie, sagt eine
Stimme.
9 von 10 Menschen wissen sofort Bescheid, wenn ich ihnen
von meiner bipolaren Störung erzähle. Gefühlt jedenfalls. Wissen sofort, wie
ich mich verhalten werde, wie meine Tiefen aussehen und, noch viel wichtiger,
die Höhen. Kanye West bekomme ich dann zu hören oder manchmal auch Charlie
Sheen. Nie hat jemand Carrie Fisher erwähnt, ganz zu schweigen von Hemingway.
Kein Lord Byron oder Robert Louis Stevenson. Nein, Schlagzeilen sind halt
attraktiver und Hiphop.
9 von 10 Menschen wissen dann bescheid, dass meine Manie
eigentlich nur mein männliches Ego ist, das endlich zum Vorschein kommt.
Erahnen sofort, dass meine Distanziertheit, meine Abwesenheit nur ein Ruf nach
Aufmerksamkeit ist. Sind sich sicher, dass ich nur selbstverliebt, nur
narzisstisch bin.
9 von 10 Menschen verstehen nicht, warum ich in 30 Meter
Höhe an einem Geländer lehne und mit mir kämpfen muss, um nicht zu springen. Verstehen
nicht, warum ich immer wieder in Situationen komme, in denen ich mich fragen
muss, warum ich bestimmte Sachen gesagt oder getan habe. Wissen nicht wie es
ist aufzuwachen und keine Kontrolle mehr über sein Handeln zu haben, mit
geschlossenen Augen über die Autobahn zu fahren, Menschen sinnlos anzupöbeln,
sich die Hände blutig zu schlagen, nur weil einem danach ist. Können es nicht
nachvollziehen, wie es ist festzustecken, nicht mehr voran zu kommen, grundlos
weinend zusammenzubrechen, nichts zu fühlen. So wenig zu fühlen, dass man sich
mit spitzen Gegenständen in die Fingerkuppen sticht. Um zu fühlen.
9 von 10 Menschen raten mir einfach jemanden zu vögeln.
Sport machen. Rausgehen. Yoga. Einfach aufhören traurig zu sein.
So liege ich am Strand und bin depressiv. Fahre über 30 km
mit dem Rad und bin müde und obendrauf mental am Boden. Oder manisch und nichts
von dem da oben tut in der Manie gut, so viel weiß einer von 10 Menschen.
Und die anderen 9 sind am Ende einfach weg.
Ich wollte dich sehen. Dich sehen. Kennenlernen,
was ich nicht kenne – nein – wen ich nicht kenne. Das war mein Wunsch. Erleben.
Leben.
Wortspiele liegen dir mehr. So wie das schreiben. Und
doch konnte ich endlich jemandem glauben, dass auch ich schreiben kann, dass
das, was ich hier fabriziere auch gut ist. Ich konnte es, weil ich dich sah,
deine Leidenschaft, das Herzblut, das du in jeden Text zu stecken schienst und
all die Zeit und Arbeit. Leidenschaft.
Das faszinierte mich. Zog mich an. Erweckte Sehnsucht
nach Kennenlernen. Erkennen. Sehen.
War ich doch dankbar, dass plötzlich alles Wirken, alle
Werke eine weitere Bedeutung bekamen. Kunst war nicht mehr nur
Selbstdarstellung, und auch nicht mehr nur die Erfüllung einer
Daseinsberechtigung. Kunst war plötzlich auch für dich. Ein Rotkehlchen.
Dutzende Blumen. Briefe. All das wurde noch einmal mehr. Dank dir.
Selbst ich.
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl in so vielen Aspekten
gespalten zu sein. Es ist nicht schlecht. Keineswegs. Es ist vielmehr
ungewöhnlich.
Ein Buch. Irgendwas im Sinne von: „Hey, ich hab gerade
das erste Kapitel von dem Buch gelesen, dass deinen Namen trägt, richtig gut,
falls es nicht von dir sein sollte, kann ich es dir nur empfehlen.“
Missverstanden werden ist auch etwas Schönes. Zeigt einem
die eigene Menschlichkeit und die des Gegenübers. Missverstanden habe ich mich
oft gefühlt. Und menschlich. Und schön.
Eines ist mir aber kürzlich klar geworden; so sehr ich
mich nach einem (wieder)sehen gesehnt habe, würde ich heute keinen Umweg dafür
machen.
P.S.
Das ist alles, was ich habe. Alles was noch
Daseinsberechtigung sucht. Kunst war gut mit dir, und schön. Für mich war es
nie das, was du darin gesehen hast, aber eine schlaue Person sagte mir mal,
dass eben auch der Betrachter der Kunst eine eigene Bedeutung geben kann, die
nicht vorgesehen war. Ein wundervoller Gedanke.